Schule in Zeiten des Coronavirus

Es ist ein außergewöhnliches Jahr - gerade auch für SchülerInnen!

Die von der Bundesregierung gesetzten Schutzmaßnahmen sollen die Ausbreitung des Virus verlangsamen, denn die Gesundheit aller Menschen muss derzeit oberstes Ziel sein.  Die gesetzten Schritte sind sinnvoll, wichtig und unbedingt einzuhalten. Nichtsdestotrotz ist auf die Verhältnismäßigkeit der Eingriffe zu achten, und die Einhaltung der Kinderrechte im Sinne der UN-Kinderrechtekonvention muss auch in der Krisensituation so weit als irgend möglich gewahrt bleiben.

In ihrem derzeitigen Alltag nehmen Kinder und Jugendliche die allseits gegenwärtigen Spannungen und Ängste um sie herum besonders intensiv wahr. Das führt dazu, dass sie teilweise verunsichert und orientierungslos sind.  Zusätzlich ist ihre Tagesgestaltung plötzlich völlig verändert, der Bewegungsradius stark eingeschränkt und ein Treffen von Freund*innen und Verwandten nicht möglich. Für die Stabilität und emotionale Sicherheit von Kindern und Jugendlichen ist es daher gerade in solchen Krisenzeiten essenziell, dass ein gutes Zusammenwirken von Lehrpersonen, Eltern und Schüler*innen stattfindet. Durch die –  von einem Tag auf den anderen entstandenen – neuen und ungewohnten Anforderungen des „Distance-Learning“ sind Kinder und Jugendliche zusätzlich massiv gefordert.

Zudem haben sowohl Bildungsminister als auch Bundeskanzler in den letzten Tagen bereits in Aussicht gestellt, dass die Schulen jedenfalls länger als bis nach Ostern, möglicherweise sogar bis zum Semesterende, geschlossen bleiben.

Dementsprechend möchten die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs darauf hinweisen, dass angesichts der derzeitigen Lage und des Umgangs damit aus kinderrechtlicher Sicht einige Aspekte zu beachten sind. Begrüßt werden die vom Bildungsministerium veröffentlichten Leitlinien für die Fernlehre/das Distance Learning, welche sich an Lehrpersonen, Schulleitungen und Eltern bzw. Erziehungsberechtigte richten. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs weisen nachfolgend auf einige kinderrechtliche Aspekte hin, die noch nicht entsprechend berücksichtigt scheinen bzw. betonen die Wichtigkeit der veröffentlichten Leitlinien für die Fernlehre/das Distance Learning.[1]

Einstellung des regulären Schulbetriebes und Schulische Betreuungsangebote

Seit 16.3. bzw. 18.3.2020 ist in Österreich der reguläre Schulbetrieb eingestellt. Möglicherweise bleibt diese Anordnung bis Semesterende aufrecht. Lehrpersonen und Direktor*innen kommen ihrer Dienstpflicht weiterhin nach.  Schüler*innen, für die keine Betreuungsmöglichkeit zu Hause besteht, können Betreuungsangebote am Schulstandort wahrnehmen. Das betrifft im Wesentlichen jene Eltern, die am Arbeitsplatz unabkömmlich sind.

Die Erfahrung der letzten Tage zeigt aber, dass trotz dieses Angebotes Familien in Notlagen geraten. Die Öffnungszeiten der schulischen Betreuung sind divergierend und vor allem die Nachmittagsbetreuung steht in der Regel nur jenen Schüler*innen zur Verfügung, die ganzjährig die Nachmittagsbetreuung der Schule in Anspruch nehmen. Kinder, die zu Zeiten des regulären Schulbetriebs durch Großeltern betreut wurden, sind jetzt abschnittsweise ohne Betreuung. In Einzelfällen überschneiden sich auch die Arbeitszeiten der Eltern. Das hat zur Folge, dass Eltern sich große Vorwürfe und Sorgen machen, weil sie der gesetzlichen Aufsichtspflicht nicht zufriedenstellend nachkommen können bzw.  ihre Kinder über Stunden unbeaufsichtigt bleiben und auf sich alleine gestellt sind.

Hier ist aus Sicht der Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs ein gemeinsames Zusammenwirken von Dienstgeber*innen, Betreuungseinrichtungen und Familien erforderlich, damit die notwendige Kinderbetreuung im Einzelfall gewährleistet ist.

Es besteht dringender Bedarf an zeitlich flexiblen Betreuungsplätzen für alle Familien, die in systemerhaltenden Berufen tätig sind bzw. Entgegenkommen der Dienstgeber*innen hinsichtlich der Dienstplangestaltung.

Übungsmaterialien/Festigung des Unterrichtsstoffes

Die Schulleitung organisiert die kontinuierliche Bereitstellung von Übungsmaterialien. Pädagogische Zielsetzung dieser Materialien ist die Festigung, Vertiefung und Einübung bereits im Unterricht erarbeiteter Lerninhalte. Die Ausarbeitung dieser Materialien fließt im Rahmen der Mitarbeit in die Zeugnisnote ein (Distance Learning). Die Erfahrung aus der Beratungstätigkeit der letzten Tage zeigt, dass die Umsetzung dieser Vorgaben erheblich divergiert. Aus kinderrechtlicher Sicht wird auf folgende Problembereiche hingewiesen:

  1. Die Zurverfügungstellung der Übungsmaterialen erfolgt über eine Vielzahl von Kanälen: Den Überblick über die zu erfüllenden Aufgabenstellungen zu bewahren, ist schwierig. Die plötzliche Forderung nach einem enorm hohen Maß an Selbstorganisation führt vereinzelt zu massiven Überforderungssituationen von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern.  Es ist zu bedenken, dass ein erheblicher Anteil von Schüler*innen für die korrekte Erfüllung der Aufgabenstellungen auf die Unterstützung ihrer Eltern bzw. anderer erwachsener Personen angewiesen ist.  Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs erwarten sich strukturierte Vorgaben und zumindest schulintern eine einheitliche und übersichtliche Vorgangsweise bei Übermittlung der Arbeitsaufträge. Zur Orientierung könnten Wochenarbeitspläne mitgeschickt werden, anhand welcher die Schüler*innen kontrollieren können, was noch zu erledigen ist.
     
  2. Darüber hinaus werden Materialen Online zur Verfügung gestellt. Nicht jeder Familie steht eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung. Sehr oft verfügt nicht jedes Familienmitglied über einen eigenen PC-Arbeitsplatz oder einen Internetzugang. Darüber hinaus zeigt sich in der Praxis, dass bei bestehenden Druckern bereits die Patronen leer werden und benötigte Scanner fehlen. Diese Infrastruktur kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
     
  3. Empfohlen wird zudem eine Abstimmung im Lehrkörper über Umfang und Zeitraum der zu erfüllenden Aufgabenstellungen je Materie, um Stoß- bzw. Leerzeiten vermeiden zu können. Oftmals werden Schüler*innen mit einer Vielzahl an Übungsaufgaben konfrontiert, die über die Stoffmenge hinausgehen, welche im Rahmen des regulären Schulbetriebs erarbeitet werden kann. Nur weil die Kinder und Jugendlichen jetzt zu Hause sind, haben sie nicht mehr Zeit. Eine Überforderung muss jedenfalls vermieden werden. Für besonders engagierte Schüler*innen gäbe es auch die Möglichkeit, freiwillige Aufgaben auszugeben.
     
  4. Zudem dienen bestimmte Übungsmaterialien nicht der Vertiefung des Stoffes, sondern wird eine Erarbeitung von neuen Bereichen gefordert. Die Kinder und Jugendlichen sind in dieser Situation auf sich selbst gestellt und können nicht auf die persönliche Anleitung durch Lehrpersonen oder den direkten Austausch im Klassengefüge zurückgreifen. Wesentliche Bedeutung kommt hier den familiären Ressourcen zu. Dies verstärkt den in Österreich ohnehin vorhandenen Effekt, dass Bildung „vererbt“ wird. Gebildete Schichten haben erfahrungsgemäß eher die Kompetenz und eine stärkere Motivation unterstützend tätig zu sein. Hinzu kommt, dass ein Großteil jener Eltern, die ihre Kinder derzeit schulisch unterstützen, in Form von „Homeoffice“ tätig ist. Eine gleichzeitige Unterstützung der Kinder und Jugendlichen beim Erarbeiten neuer Lerninhalte und ein konzentriertes berufliches Engagement bringen Eltern an ihre Grenzen. Andererseits besteht in Familien durch veränderte Arbeitsbedingungen bzw. sogar Verlust des Arbeitsplatzes, durch Zusammenleben auf engem Raum etc. ein erhöhtes Konfliktpotential. Das eigenständige Erarbeiten neuer Lerninhalte bildet sowohl für Kinder und Jugendliche als auch ihre Eltern eine massive Belastungssituation bzw. verstärkt die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen, welche diesbezüglich keine familiären Ressourcen zur Verfügung haben. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs fordern daher, die Vorgaben einzuhalten und Aufgabenstellungen lediglich zum Zwecke der Wiederholung, Festigung und Vertiefung des bisher behandelten Lernstoffes zu geben. Zudem wird die Wichtigkeit der Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen sowie Lehrpersonen und Eltern betont, wie dies auch die Leitlinien erläutern.

Entfall von Schularbeiten

Schularbeiten sind gem. § 7 Abs. 9 LBVO nicht nachzuholen, wenn dies im betreffenden Semester nicht möglich ist. Diesbezüglich bedarf es der Schaffung einheitlicher Vorgaben, um zu verhindern, dass die Überprüfungen an einzelnen Schulen zeitlich so geballt erfolgen, dass Schüler*innen einer anhaltenden Stresssituation ausgeliefert und geistig sowie körperlich überfordert wären.

Zentralmatura, Benotung und Sommerferien

Die zeitliche Verschiebung der Reife- und Diplomprüfung wird grundsätzlich begrüßt. Sofern die Maßnahmen für Schulen auch nach Ostern aufrecht bleiben, sprechen sich die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs allerdings klar dafür aus, dass in diesem außergewöhnlichen Jahr auch für Schüler*innen außerordentliche Regeln gelten müssen! Für Arbeitnehmer*innen gibt es Kurzarbeit, oder Sonderurlaub. Auch für Schüler*innen braucht es „verordnete Großzügigkeit“. Hierfür wird beispielsweise empfohlen, die Lehrpläne bzw. die Beurteilung anzupassen. Alle Schüler*innen sollten mit einem positiven Abschlusszeugnis abschließen und aufsteigen können. Analog zu einem Auslandssemester ist ein positiver Abschluss ohne Benotung möglich, wenn an bestimmten Übungen teilgenommen wurde. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass jedes Kind die bessere Note bekommt etc. Dadurch würde der Druck in Familien erheblich reduziert.

Den versäumten Schulstoff in den Sommerferien nachzuholen würde zwar das Recht auf bestmögliche Bildung gewährleisten, wäre allerdings unter Berücksichtigung des Kindeswohls als oberste Maxime klar abzulehnen, da Schüler*innen während der aktuellen Überbrückungsphase erhöhtem Stress und Mehraufwand durch Selbstorganisation, weniger Unterstützung durch Lehrpersonen, familiäre Belastungen etc. ausgesetzt sind. Daher ist eine längere Erholungsphase durch „echte“ Sommerferien besonders wichtig.

Daraus weiter folgend ist aus kinderrechtlicher Sicht festzuhalten, dass die Lösung der Schwierigkeiten und Probleme in der Betreuung nicht einfach in einer Verkürzung der Sommerferien liegen können. Faktum ist jedoch auch, dass viele Eltern auf Betreuung in den Sommerferien angewiesen sein werden, da Ihnen voraussichtlich die üblicherweise dafür zur Verfügung stehenden Zeitkapazitäten aufgrund der Regelungen im Rahmen der SARS-CoV-2 -Pandemie fehlen werden. Daher sollte hier unbedingt ein adäquates Angebot geschaffen werden.

Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Fortführung des Schulbetriebs unter den gegebenen Umständen unterschiedlichste Herausforderungen für alle Beteiligten birgt. Durch das außerordentliche und großartige Engagement aller ist es schon jetzt gelungen, in kürzester Zeit einen völlig neuen und an die Gegebenheiten angepassten Schulbetrieb auf die Beine zu stellen, um den Bildungsauftrag zu gewährleisten und fortzusetzen. Besonders aufgrund der voraussichtlich längeren Dauer der getroffenen Maßnahmen, ist es aber umso wichtiger, auch auf die gesamte Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu achten und darauf Rücksicht zu nehmen.

Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs sprechen sich daher für eine ausgewogene Berücksichtigung sämtlicher Kinderrechte im Sinne der UN-Kinderrechtekonvention aus. Das Recht auf Bildung gem. Artikel 28 der UN-Kinderrechtekonvention ist ein wesentliches Kinderrecht, und stets unter der Prämisse des Kindeswohls zu betrachten. Zentrales Kernelement aller Bemühungen muss es sein, das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen in Österreich zu gewährleisten. Neben der Erfüllung des Bildungsauftrages gilt es stets zu bedenken, dass das Thema Schule bereits im alltäglichen familiären Leben häufig Konfliktpotenzial bietet. Durch die derzeitigen neuen Anforderungen steigt nicht nur der Druck, sondern auch das Risiko von häuslicher Gewalt massiv an.