Kontaktrecht und Coronavirus

Das Recht der Kinder auf Kontakt zu beiden Elternteilen steht in der österreichischen Verfassung.

 

Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs: Kinderrechte, Elternrechte und Gemeinwohl berücksichtigen

Das Coronavirus und seine rasche Ausbreitung stellen uns als Gesellschaft vor besondere Herausforderungen. Die Lage ist ernst und oberstes Ziel ist derzeit der Schutz der Gesundheit aller Menschen in Österreich. Wir alle müssen so gut wie möglich daran mitwirken, dass die Ausbreitung des Virus eingedämmt wird.

Was bedeutet die Situation aber für das Kontaktrecht („Besuchsrecht“)?

Am 18.3.2020 hat das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zum Thema Kontaktrecht folgenden Standpunkt publiziert: „Ein Kind darf den Haushalt des Elternteils, der es betreut, aufgrund der Verordnung des Gesundheitsministeriums nicht verlassen. Kontakte sollen nach Möglichkeit bis zum Außerkrafttreten der Verordnung (22.März 2020) nur mittels Telefon oder Skype (o.ä.) stattfinden.“

Jedes Kind hat ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen gem. Art. 2 (1) Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern. Eine Einschränkung dieses Rechts ist zulässig, sofern es dem Kindeswohl dient oder im Sinne des Art. 7 Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern, insbesondere zum Schutz der Gesundheit anderer, notwendig ist. Das Erfordernis, sämtliche persönlichen Kontakte so weit wie möglich einzuschränken, um den Schutz von Risikogruppen zu gewährleisten und der raschen Ausbreitung entgegenzuarbeiten, steht außer Frage.

Aktuell ist es aus Sicht der Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs jedoch dringend notwendig, jeden Einzelfall genau zu betrachten und die Möglichkeit für persönliche Kontakte bestehen zu lassen. Dies insbesondere in Hinblick darauf, dass die Maßnahmen über den 22.3.2020 hinaus verlängert werden. Hierbei muss sowohl das Kindes- als auch das Gemeinwohl im Auge behalten werden. Im Einzelfall sind einerseits Alter und überwiegender Aufenthalt des Kindes (Doppelresidenz-Modell), Intensität der Eltern-Kind-Beziehung, Betreuungsbedarf des Kindes, alternative Kontaktmöglichkeiten, andererseits das Ausmaß der Gefährdung eines Elternteiles sowie anderer im Haushalt lebender Person, sich mit dem Virus zu infizieren, maßgeblich. Dabei kommt auch dem „Kontaktelternteil“ besondere Verantwortung für die strenge Einhaltung der Aufenthaltsbeschränkungen zu.

Ein absolutes Verbot direkter persönlicher Kontakte ist aus kinderrechtlicher Sicht nicht vertretbar und scheint nicht gerechtfertigt, insbesondere unter Berücksichtigung der weiterhin zulässigen Kontakte durch Einkäufe und erforderliche Berufstätigkeit. Es wird empfohlen, die Option der Betreuung durch den getrenntlebenden Elternteil einer Betreuung in Schule oder Kindergarten/Kinderkrippe vorziehen zu können. Dies unter Abwägung des Kindes- und des Gemeinwohls. Zu beachten ist außerdem, dass bei längerer Dauer der Schutzmaßnahmen erhöhtes Konfliktpotential auf Elternebene und nachteilige Folgen für Kinder zu befürchten sind. Erfahrungen zeigen, dass Krisen und Belastungssituationen vermehrt zu häuslicher Gewalt und somit zu Gewalt an Kindern führen. Hierfür sind Sensibilisierung und ausreichende Unterstützung für Familien sicherzustellen. Die Erfahrungen der letzten Tage zeigen, dass Eltern aufgrund längerer Kontaktsperren eine Entfremdung des Kindes befürchten, welche nachteilige Folgen auf die weitere Kontaktgestaltung hätte und Eltern zudem nicht wissen, wie die aktuellen Vorgaben mit ihrem gerichtlich geregelten Kontaktrecht vereinbar sind. Zu bedenken ist auch, dass diese Maßnahmen in hochstrittigen Kontaktrechtsfällen aktuelle und folgende Konflikte zu Lasten der Kinder bewirken (können). Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs appellieren dringend an die Eltern, in dieser Ausnahmesituation gegenseitige Ressentiments hintanzustellen und im gemeinsamen Zusammenwirken die bestmögliche Lösung für das Kind zu finden. Das Wohl des Kindes steht in engem Zusammenhang mit dem Verhalten der Erwachsenen. Daher ist in allen Fällen umsichtiges Handeln der Erwachsenen und die Bereitschaft zu Kooperation gefragt.

Ist ein persönlicher Kontakt nach Abwägung der Umstände und unter Berücksichtigung der Vorgaben der Bundesregierung nicht möglich, sind aus Sicht der Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs jedenfalls ausgedehnte Telefonkontakte – bei Vorhandensein der technischen Gegebenheiten optimalerweise Videotelefonie (z.B. Facetime, WhatsApp, Skype) – zu gewährleisten. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs ersuchen alle Eltern, diese Möglichkeiten im Sinne der Kinder auszuschöpfen und eine Lösung, getragen von gegenseitigem Respekt und Verständnis, zu finden. Sollte eine Einigung zwischen Elternteilen nicht möglich sein, sind klare Vorgaben erforderlich, um Kinder vor massiven Konflikten auf Elternebene zu schützen.

Von den Auswirkungen der derzeitigen Situation auf das Kontaktrecht sind nicht nur Kinder von getrenntlebenden Eltern, sondern insbesondere auch Kinder in Krisen- und Pflegefamilien sowie in sozialpädagogischen Einrichtungen betroffen. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Pflegeeltern bzw. pädagogischen Fachkräften allein stellt schon oftmals alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Umso mehr kommt gerade in diesen außerordentlichen Zeiten einer wertschätzenden Haltung und Kommunikation seitens aller Beteiligten ganz besondere Bedeutung zu. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs appellieren daher, in dieser Diskussion nicht die Kinder in Fremdunterbringung zu vergessen und auch ihnen den regelmäßigen Kontakt zu ihren leiblichen Eltern entsprechend den bisherigen Ausführungen zu ermöglichen.

Die österreichische Bundesregierung im Allgemeinen und das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz im Besonderen, wird daher ersucht, die derzeit gültige Verordnung zu präzisieren und Ausnahmebestimmungen zur Wahrung des Kontaktrechts zu normieren.