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Rückkehr zur Normalität an Schulen

Die Kinder- und Jugendanwält*innen Österreichs wenden sich in einem offenen Brief an den Bildungsminister.

Symbolbild: cc 2.0 RODNAE Productions / Pexels

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Sehr geehrter Herr Bildungsminister,

die Kinder- und Jugendanwält*innen Österreichs begrüßen die aktuellen Lockerungsmaßnahmen - wie den Entfall der Maskenpflicht im Turnunterricht und für Volksschulkinder am Sitzplatz -  sowie das „Pädagogische Sofortpaket“. Die seit dem Schulstart 2022 geltende „Sicherheitsphase“ der Risikostufe 3 soll bis Ende Februar, alle weiteren Corona-Verordnungen darüber hinaus, gelten. Angesichts der veränderten Gesamtsituation erscheint es dringend geboten, sämtliche getroffenen Schutzmaßnahmen neu zu bewerten bzw. unter dem Aspekt des verfassungsgesetzlich verankerten Kindeswohlvorrangigkeitsprinzips auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

Ist-Situation:

Die Kinder- und Jugendanwaltschaften (kijas) Österreichs erhalten täglich hunderte Mails oder Anrufe von Eltern und Pädagog*innen, in ernstzunehmender Sorge um die psychische und physische Gesundheit der jungen Menschen sowie von Schüler*innen, die über einen zunehmenden schulischen Leistungs- und Leidensdruck klagen. Faktum ist, dass die psychischen Erkrankungen und Belastungen bei jungen Menschen in einem besorgniserregenden Ausmaß zugenommen haben. Gleichzeitig werden ihnen nach wie vor die strengsten Maßnahmen zugemutet: So werden sie bis zu fünf Mal wöchentlich getestet, müssen bis zu acht Stunden am Tag durchgehend einen Mund-Nasenschutz tragen (auch am Sitzplatz) und trotzdem wird bei zwei positiv getesteten Schüler*innen häufig die gesamte Klasse ins Distance Learning geschickt. Schulveranstaltungen und schulbezogene Veranstaltungen, wie Exkursionen, Theater oder Workshops zu psychosozialen Themen wie zB Gewalt- oder Mobbingprävention sind seit Monaten untersagt, außerdem finden Kochen, Werken, Singen oder der Turnunterricht nicht oder nur mit Maske statt.

Auf so vieles, was in der Schule Freude macht, was die Gemeinschaft fördert, was der Seele guttut, müssen Kinder verzichten. Dieser „Ausnahmezustand“ mit seinen psychischen Folgeerscheinungen dauert für junge Menschen nun schon zu lange. Während an den meisten Arbeitsplätzen und anderen Bereichen mit geringeren Maßnahmen das Auslangen gefunden wird, suggeriert das engmaschige Testregime und die Fokussierung auf Impfstatus,

Quarantäne und andere Corona-Schutzmaßnahmen Kindern und Jugendlichen eine permanente Krankheitsbedrohung. Darüber hinaus wird seitens der Kinder- und Jugendanwält*innen Österreichs die zunehmende Emotionalisierung und Polarisierung, auch an Schulen, mit großer Sorge beobachtet.

Empfehlungen

Die kijas treten selbstverständlich für den Grundsatz der offenen Schulen mit ausreichendem Sicherheitskonzept ein, drängen aber angesichts der veränderten Viruslage, des geringen Beitrags dieser Altersgruppe zur Hospitalisierung, der aktuell nicht drohenden Überlastung des Gesundheitssystems sowie der Verfügbarkeit von Impfstoffen, den Interessen, Bedürfnissen und Rechten von Kindern und Jugendlichen einen höheren Stellenwert als bisher einzuräumen.

  1. Sämtliche aktuelle Corona-Maßnahmen sind in Anbetracht der veränderten Situation unter Einbindung von Kinderrechtsexpert*innen auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen und sukzessive abzubauen. Dabei soll eine Priorisierung anhand des Gesundheitsbegriffs im ganzheitlichen Sinn, also der das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden junger Menschen umfasst, erfolgen.
  2. Junge Menschen bis 18 Jahre sind von der Impfpflicht ausgenommen. Trotzdem sind auch bei Kindern und Jugendlichen besorgniserregende Auseinandersetzungen zu diesem Thema zu beobachten. Maßnahmen in Zusammenhang mit Covid-19 sollen bei jungen Menschen zu keiner Differenzierung anhand vom Impfstatus führen. Gemeinschaftsfördernde Maßnahmen sollten im Vordergrund stehen und ausgebaut werden.
  3. Während der Pandemie haben junge Menschen viele neue Lebenserfahrungen gesammelt - positive wie negative - und eigenständiges Lernen und Selbstorganisation unter Beweis gestellt. Auf dem Weg „zurück in die Normalität“ sind sie gemäß dem im Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern verankerten Prinzip der Partizipation aktiv miteinzubeziehen und ihre Vorschläge entsprechend zu berücksichtigen. 

Des Weiteren wird empfohlen:

  1. Die Aufhebung der Maskenpflicht am Sitzplatz für alle Schüler*innen, gegebenenfalls durch Zurverfügungstellung/Anmietung größere Räumlichkeiten.
  2. Die Ausstattung sämtlicher Klassen mit Luftreinigungsfiltern mit integrierten Geräten zur Messung der Luftqualität, zur Verbesserung der Luftqualität und Senkung des Infektionsrisikos.
  3. Kostenloser und flächendeckender Zugang zu psychosozialer und medizinischer Unterstützung durch Gesundheitsteams (Schulpsycholog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, school nurses, Schulärzt*innen, persönliche Assistenz etc.) an allen Bildungseinrichtungen durch Festlegung verbindlicher Schlüssel (Anm.: Derzeit entfallen auf eine schulpsychologische Fachkraft 6.077 Schüler*innen! Eine Anhebung um 20% ist daher nur der berühmte „Tropfen auf dem heißen Stein“).
  4. Die Förderung von Schulveranstaltungen zur Verbesserung der Klassengemeinschaft (mit einem Betrag von 500,- Euro) soll nicht - wie vorgesehen - an drei Übernachtungen geknüpft sein, um Volksschulen nicht von der Nutzung dieser wichtigen gemeinschaftsfördernden Maßnahme auszuschließen.
  5. In vielen Schulen herrscht nicht nur „business as usual“, sondern die Dichte der Tests, Schularbeiten und Lernzielüberprüfungen ist höher als vor der Pandemie. In Anbetracht der Ausnahmeschuljahre ist es ein Gebot der Stunde, unangemessenen Druck herauszunehmen und es kann nur an alle Verantwortlichen appelliert werden, stattdessen der Situation angepasste, realistische und zeitgemäße Leistungsüberprüfungen durch- bzw. einzuführen.
  6. Anstelle der bisherigen schriftlichen bzw. mündlichen Matura schlagen wir vor, diese durch das Verfassen sowie die Präsentation der Vorwissenschaftlichen Arbeit abzulegen. Damit wird Eigenverantwortung, systematisches Verstehen und kritisches Denkens gefördert, alles Voraussetzungen, die sowohl für jede/n einzelnen, im Studium, aber auch in der Arbeitswelt bzw. die Gesellschaft von Nutzen sind. Es den Schüler*innen zu überlassen, ob sie die Matura mündlich ablegen oder nicht (Stichwort „freiwillige“ mündliche Matura), wird abgelehnt.
  7. Erleichterungen für Übergangsklassen und Berufsschulen bzw. Abschlussprüfungen sind einzuführen.

Die Covid-19 Pandemie hat die Welt, insbesondere auch den Bildungsbereich verändert. Wir hoffen, dass diese Veränderungen und Herausforderungen als Chance gesehen und genutzt werden, um JETZT mutig neue Wege im österreichischen Schulsystem zu beschreiten. Und zwar gemeinsam mit denen, die an der Basis sind: mit Schüler*innen, Lehrkräften und Eltern. Denn um Gerald Hüther, einen der angesehensten Lern- und Hirnforscher zu zitieren: „Die Welt, für die unsere Schulen gemacht worden sind, existiert nicht mehr“.

Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs bringen sich als Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche mit ihrer Expertise gerne in diesen notwendigen Reformprozess ein.

Abschließend möchten wir die Gelegenheit nutzen, Schüler*innen, Lehrenden, Eltern und allen im Bildungsbereich Tätigen für ihren Einsatz und ihr Durchhaltevermögen zu danken und erholsam Semesterferien zu wünschen!

Für die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs

Dr.in Andrea Holz-Dahrenstaedt
Kinder- und Jugendanwältin des Landes Salzburg

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